Meine Tochter hat ein Kraniopharyngeom

Wie es mir als Mutter damit erging

Ich bin die Mutter von Maria. Ich bin allein erziehend (besser: war; denn Maria ist volljährig),und Maria ist mein einziges Kind.

Gesundheitlich war Maria von Geburt an ein problematisches Kind. Wir hatten uns damit sowieso mit den Folgen arrangiert. Allerdings musste ich als Mutter mir immer mal wieder vergegenwärtigen, dass mein Erziehungsauftrag war, einen jungen Menschen ins Leben zu begleiten und nicht, diesen Menschen durch Überfürsorge einzuengen.

Als Maria dann volljährig war und ihre Ausbildung begann, zogen wir aus unserer “kindgerechten” Wohnung in eine, die eher für eine “Zweier-WG” geeignet war. Wir wollten noch bis spätestens Ende der Ausbildung zusammenleben, eine von uns würde dann ausziehen. Juli 2000 klagte Maria über massive Kopfschmerzen und quälenden Tinnitus. Es sollte aber noch einige Zeit dauern, bis Gewissheit war, was ich immer als Bedrohung empfunden hatte. Zunächst fuhr Maria zum ersten Mal in ihrem Leben allein nach Spanien in den Urlaub und sie hat diesen Urlaub sehr genossen. Sie war zu dieser Zeit sozial hervorragend integriert: Freunde beim Sport, im Verein, in der Freizeit(Disco und was junge Menschen so machen ),keine Schwierigkeiten in Schule und Praktikum, zufrieden in ihren Hobbys und immer auf der Suche nach Neuem. Nach 2 vorausgegangenen Besuchen im Sahel war eine “Fotosafari” auf Madagaskar geplant.

Dann wegen des Tinnitus ein “Ausschluß”-CT, das alles veränderte: an einem Freitagnachmittag war sie dort, während ich an meinem Arbeitsplatz Spätdienst hatte. Sie rief mich sehr verzweifelt an, der Arzt habe ihr gesagt, sie habe einen Hirntumor und ihr ein schönes Wochenende gewünscht. Am Telefon !Ich war schockiert, aber versucht, dem die Spitze zu nehmen(“Es wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird” oder so ähnlich),um Maria, die nicht zu mir kommen wollte, wenigstens soweit zu beruhigen, dass sie durchhalten konnte, bis ich nach Haus käme. Das Ganze ist jetzt ein Jahr her und genau weiß ich nicht mehr, was im Einzelnen abging. Ich beschränke mich deshalb auf das Wesentliche und meine Rolle als Mutter und als ich selbst.

Wegen der großen psychosozialen Gefahren, die eine ausschließliche Mutter-Tochter-Beziehung bergen kann, hatte ich schon sehr früh angefangen, Maria zu eigenen Lebenszielen zu ermutigen.
In Absprache mit ihr beschloss ich, als ich 50 wurde, dass sie zeitweise selbstständig den Haushalt managen sollte, während ich mich daran gewöhnen wollte, mich außerhalb des Hauses, im Urlaub zum Beispiel, als ”alternder Single” zu emanzipieren. Das gefiel mir sehr gut und gab unserer Beziehung neue Impulse.

Dann also die vorläufige und sehr bald bestätigte Diagnose für Maria: Kraniopharyngeom! Auflehnung bei mir, Kindheitsbilder blockieren mich: meine jüngste Schwester als Kind nach Hirn OP gestorben, ihr Tod in der Familie nie wirklich aufgearbeitet; wenig später Tod meines jüngsten Cousins nach Hirntumor, meine jüngste Cousine ebenso betroffen. Bei mir jetzt Ratlosigkeit. Verzweiflung. Und ein bedrohtes junges Leben, das Leben meiner Tochter! das gestärkt werden muss.

Informationssuche, Arztgespräche. Antizipation von Lebensende. Psychische Vereinsamung, wir beginnen aus Scheu, uns einander zu entfremden. Ich beginne, und das wird noch lange andauern, mir Selbstvorwürfe zu machen :Wo habe ich versagt, wo etwas versäumt, wo nicht genau hingesehen, wo Hinweise nicht beachtet ?Der Druck wird fast unerträglich, in der Einsamkeit wird mir der Spiegel ein liebes therapeutisches Hilfsmittel, vor dem ich meine Hilflosigkeit ausagiere und allerdings bald auch meine Selbstbehauptung erlebe: Ich muss mir selbst wieder ins Gesicht sehen und meinem Kind eine Perspektive bieten können.

Wir kommen überein, dass “das Ding” einen Namen haben muss. Maria nimmt das sehr wörtlich, nennt den Tumor “Knut” und “Knut muss sich von mir trennen”. Das ist der durchschlagende Schritt, die Bereitschaft zur OP.

Dann beschließen wir, ”Öffentlichkeit” herzustellen, in der Familie, in ihrem Ausbildungs- und Freundeskreis, in meinem Arbeitsumfeld: Wir hoffen auf Entspannung, auf so etwas wie Normalität im Umgang miteinander. Diese Hoffnung erfüllt sich, jedenfalls für mich, niemand versinkt in Mitleid.
Maria und ich sind inzwischen wieder näher gerückt. Das muss so sein, weil Maria die sehr schmerzliche Erfahrung macht, dass Freunde-die meisten-sich aus sehr unterschiedlichen Gründen zurückziehen. Ihr Freund, mit dem sie Weihnachten und Jahreswechsel verbringen wollte, trennt sich von ihr, sie ist wörtlich zu Tode gekränkt. Sie dort aufzufangen, fällt mir sehr schwer und glückt auch nicht ganz.
Irgendwann geht Maria nicht mehr zur Schule. Es gibt dort noch Lehrergespräche, prospektiv: Maria soll ihren Schülerstatus, egal, was kommt, nicht verlieren, soll die Option haben, das Schuljahr Günstigenfalls noch zu beenden. Schwierig ist, dass sie mit ihrer Einsamkeit jetzt zu Hause sitzt, während ich weiterhin arbeite.

Oft wünsche ich mir, meine Eltern lebten noch, um mir Rat und Trost zu geben. Meine Geschwister kann ich nicht zu Rate ziehen, sie sind teils zu weit weg, teils aus gesundheitlichen Gründen nicht belastbar. Marias Vater war nie eine Hilfe, ich informiere ihn gar nicht erst. Ihre Großeltern, Onkel und Tanten reagieren mit tiefster Betroffenheit, gehen in Wartestellung. Wirkliche Solidarität erfahre ich bei wenigen alten Freunden und im Kollegenkreis und ich bin sehr dankbar dafür.

Ganz wichtig für den Weg aus Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind Informationen. Aber nur so viele, wie ich gerade verarbeiten und meinem Kind transportieren kann. Oft genug sind es kleine Hinweise in Nebensätzen. Lesen, Querlesen, Diskutieren, Hinterfragen erweisen sich als gute Vehikel zum konstruktiven Umgang mit der so fatal er drückenden Situation. Das wird auch weiterhin so bleiben. Schließlich ist Maria bereit, eine Perspektive zu entwickeln: ”Wenn ich das überlebe nehme ich mir eine eigene Wohnung !”Das scheint mir sehr gewagt, aber ich stütze sie da.

Anfang Januar 2001 begleite ich sie ins Krankenhaus. Am nächsten Tag soll sie operiert werden. Am OP-Tag laufe ich wie ein eingesperrtes Tier durch die Wohnung, jeder Anruf erschreckt mich, ich darf mein Kind heute nicht besuchen. Aber ich darf nachmittags auf der Intensivstation anrufen: Ich darf sogar mit meiner Tochter sprechen! Es geht ihr vergleichsweise gut, ihre erste Sorge gilt nicht ihrem Befinden, sondern dem eines anderen Menschen! Jetzt kann ich ihr sagen, was ich am Vormittag erfahren habe: Sie hat eine Option auf die Wohnung ,die sie sich vor der OP ausgesucht hatte!

Schon länger war klar, dass ich wieder verstärkt Mutter sein, meine Tochter entlasten müsste. Jetzt musste ich mich damit auseinandersetzen, dass ich diese Rolle so schnell nicht wieder ablegen könnte. Aber ich musste einen Weg finden, meine Tochter zwar zu stützen, aber nicht zu behüten oder gar überzubehüten. Ich nahm Urlaub, verbrachte die Tage bei ihr im Krankenhaus, forderte sie durch allmählich länger werdende Spaziergänge und z.B. tägliches Duschen (durfte sie nur bei meiner Anwesenheit; das entlastete den Stationsalltag ),organisierte Besuche durch Freunde und Familie. Das gab auch mir Sicherheit und Ausgeglichenheit, gab das Gefühl, weiterhin sozial eingebunden zu sein, half über andere Gefühle wie Zorn und Hilflosigkeit hinweg und trug dazu bei, Perspektive zu entwickeln und Ziele zu setzen.

Den Plan, eine eigene Wohnung zu nehmen, setzte meine Tochter nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus unverzüglich um. Ich musste mir klar machen, dass ich mich nicht bei meiner dadurch bedingten Kränkung aufhalten durfte, sondern dass ich hier einen jungen Menschen auf seinen Weg in die Selbstständigkeit begleiten musste. Das war der Weg, auf dem wir unsere Mutter-Tochter-Beziehung neu gestalten konnten: Meine Tochter konnte sich von mir emanzipieren, ich kam gar nicht erst in die Versuchung, sie überzubehüten. Nach dem desaströsen ersten CT vor der OP hatte ich beschlossen, meine Tochter immer zu Erstkontakten bei Ärzten zu begleiten und sie war durchaus damit einverstanden: Das gab uns beiden Sicherheit, nahm uns Angst. Wir halten das bis heute so. Wenn meine Tochter Unterstützung braucht ,zum Erreichen ihrer Ziele z.B. Beenden des Schuljahres, Abschluss ihrer Ausbildung, Durchsetzen von Rehabilitationsmaßnahmen, gebe ich ihr die erforderliche Hilfe. Wo sie wegen Schule, Reha oder einfach Erschöpfung Absprachen nicht selbst treffen kann, übernehme ich das für sie, damit sie nicht Nachteile erleidet. Aber wo immer es möglich ist, erledigt sie ihre Angelegenheiten selbst.

Durch die räumliche Trennung haben wir eine sehr schöne Dialogebene gefunden, unsere Mutter-Tochter-Beziehung hat mittlerweile eine ganz andere Qualität, wir sind uns auf einem unerwartet neuen Niveau sehr nahe gekommen.

Manchmal noch habe ich Angst um mein Kind, öfter auch bin ich noch verunsichert.
Aber eher ist es so, dass ich eine junge Frau vor mir sehe ,die Schweres durchgemacht hat und weiter an den Folgen trägt und doch ihren Weg sehr entschieden geht: Eine junge Frau, auf die ich stolz bin!
Und manchmal bin ich noch traurig darüber, dass eigentlich nie jemand auf die Idee kam, mich -Mutter- zu fragen: “Und du? Wie geht es dir dabei ? “

Christiane

(Die Namen wurden durch zufällig gewählte Namen ersetzt.)

 

 

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